Es handelt sich hierbei um einen “Braindump”, den ich noch vor dem Gründungsparteitag zu DEMOKRATIE IN BEWEGUNG gemacht habe um Fragen, die mir häufig (über Twitter) zu der Idee gestellt wurden, zu beantworten. Dies war zunächst nur ein HackMD, welches ich im Nachhinein hier auf der Webseite archiviert habe. Es handelt sich dabei also nicht unbedingt um den letzten Stand, sondern lediglich eine Einschätzung zu dem gegebenn Zeitpunkt. Um dies passend zu reflektieren ist dieser Post zurückdatiert.


Demokratie in Bewegung

Vorweg: natürlich haben wir viel bei bestehenden Parteien geschaut und auch von Ideen, Konzepten und Fehlern aus den vergangenen Jahren versucht zu lernen. Ganz konkret haben wir uns von Podemos, den Piraten (Deutschland und Island) und Macron inspirieren lassen. Und insb. mit einigen (Ex-)Piraten in Deutschland waren und sind wir im regen Austausch um zu verstehen, was hätte anders und besser gemacht werden können.

Disclaimer: Wenn ich hier von “Piraten” rede, meine ich keine einzelne Person - ich halte sehr viel von den meisten als Person - sondern die (deutsche) Partei als Struktur und als Ganzes. Auch ist all dies mein persönlicher Blick auf die konkreten Anregungen und Fragen und als solcher zu betrachten – @gnunicornBen

Wie verhindert man, das Schicksal der Piraten zu erleiden? – Stefan Tilkov

Dafür muss natürlich erstmal ergründet werden, welche Probleme letztlich zum “Untergang” der Piraten geführt haben. Darüber sind sich ja nicht alle einig, aber wir haben im Gespräch mit vielen (Ex-)Piraten folgende Kernprobleme ausgemacht:

Werte-los ist’s wertlos

Ein Kernproblem sehen viele darin begründet, dass bis auf einige wenige Kernthemen eigentlich kaum Grundwerte in der Partei festgelegt worden sind. Das erlaubte zwar rasantes Wachstum, weil sich jede/r darin wiederfinden konnte, es erschwerte aber auch die Arbeit, weil mensch sich einfach bei vielen Grundwerten stritt und sich nicht einig wurde. Und das häufig auch noch sehr öffentlich.

Antwort: Grundwerte

Genau aus diesem Grund hat Demokratie in Bewegung von Beginn an einige Grundwerte definiert, die nicht verhandelbar sind. Alle Inititativen müssen sich im Rahmen dieser Werte bewegen und zu diesen Werten müssen sich alle Mitglieder und Unterstützer/innen bekennen. Die Werte sind auch gar nicht mal so extrem, orientieren sich an den Menschenrechten, Mitbestimmung und Respekt im Miteinander und mit der Umwelt. Wer sich da nicht wiederfindet, braucht gar nicht erst ankommen. Und das ist uns dann auch ganz recht so.

Wachse mit Weile und Bedacht

Auch wenn das Wachstum von außen betrachtet immer bestaunt wurde, so war es intern für die Piraten ein riesiges Problem. Wie bei jeder anderen schnell wachsenden Organisation (in Personal), knirscht es schnell gewaltig im Getriebe und dann kann auch schnell alles den Bach runter gehen. Insbesondere dann, wenn mensch sich faule Äpfel mit ins Boot holt und diese dann nicht wieder los werden kann.

Und dieses “Los werden” ist im Parteien-Recht nicht einfach. Der Parteiausschluss ist rechtlich nämlich alles andere als mal eben so gemacht: da braucht es Schiedsgerichte und lange Verfahren und das ist ein tierischer Aufwand. Und während der ganzen Zeit können die betreffenden Personen weiter stänkern und Mist machen.

Der Nr. 1 Tipp, der uns gegeben worden ist: nehmt nicht jede/n auf!

Antwort: Splitting, Screening und mit Gemach

Dazu haben wir einige Antworten entwickelt. Zunächst haben wir ein Mitbestimmungsmodell aufgesetzt – das Initiativ-Prinzip – welches auch Nicht-Mitgliedern (wir nennen sie “Beweger/innen”) gleichberichtigt erlaubt am Parteiprogramm mitzuwirken – alles, was es dazu braucht, ist eine regelmäßige Spende an die Partei (von geplanten 3EUR/Monat). Das hat mehrere Vorteile: zum einen können auch Mitglieder anderer Parteien oder Personen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen zu keiner Partei bekennen können, am Prozess teilnehmen.

Zum anderen kann die Partei (der Vorstand) jeder dieser Spenden aber auch ohne Angabe von Gründen die Annahme verweigern und damit die Mitwirkung von Personen jederzeit unterbinden. Wenn mindestens 3 Mitglieder es fordern, muss der jeweilige Ausschließende (wahrscheinlich der Vorstand) eine solche Verweigerung auch begründen – und kann auf Basis dessen auch abgewählt werden.

Weil durch dieses System sogar Nicht-Mitgliedern eine breite Beteiligungsform geboten wird, kann es sich die Partei leisten, den Mitgliedsstatus selektiver anzugehen. Denn während ein nachträglicher Partei-Ausschluss schwer zu machen ist, muss die Nicht-Annahme eines Aufnahme-Antrags nicht mal begründet werden. Deshalb leisten wir es uns mit jedem neuen Parteimitglied mindestens einmal gesprochen zu haben, bevor wir sie aufnehmen. Durch dieses restriktive Aufnahmeverfahren können wir moderierend eingreifen und z.B. selbst auferlegte Quoten erzwingen, ohne dass die Beteiligung an sich darunter leidet.

Basis-Demokratie braucht Moderation

Basis-Demokratie ist keine einfache Sache. Ganz im Gegenteil hat das Beispiel der Piraten hier in Deutschland eher bewiesen, dass sich bei einem ungezähmten System die “privilegierte Gruppe” durchsetzt und Probleme dann einfach verleugnet: Die Piraten sind so Post-Gender, dass ihr Bundesvorstand mit 7 Personen ausschließlich männlich besetzt ist. Wer hier nicht erkennt, dass es sich um strukturelle Probleme handelt und darauf pocht, dass der mit dem meisten Sitzfleisch entscheidet, hat den Schuss nicht gehört.

Das hat aber natürlich nicht von Beginn an bei den Piraten so ausgesehen, sondern es hat sich über die Zeit so entwickelt. Auch dadurch, dass vielen der bekannten Hass- und Harressment-Kampagnen insbesondere gegen Frauen kein Einhalt geboten worden ist und damit das Problem nur bestärkt hat.

Antwort: Code of Conduct, Quoten und klare Moderation

Im Gegensatz dazu haben wir die deutsche Version des Berlin Code of Conduct bei uns in die Satzung geschrieben und legen fest, dass dieser auf allen parteizugehörigen Veranstaltungen, online wie offline gilt und vom jeweils höchsten anwesenden Parteiorgan durchgesetzt wird: Arschlöcher brauchen wir nicht, egal für wie toll sie ihre Idee halten mögen. Denn sie schrecken nur andere ab, deren Ideen wir aber viel lieber hören würden.

Der Code of Conduct gilt auf den zugehörigen Online-Plattformen genauso wie bei Aktionen, die wir durchführen. Und wir werden aktiv aus der Geschäftsstelle heraus Moderation durchführen. Auch schon beim Einreichen von Initiativen ist festgeschrieben, dass diese vom Moderationsteam auf Verträglichkeit mit den Grundwerten geprüft werden und gegebenenfalls um Anpassung gebeten wird*.

User Experience zählt!

(Übertriebene Darstellung!) Die Hacker-Ästhetik mag ja manche anziehen, aber wenn ich erst PGP und kompliziertes VPN installieren muss, um ins Wiki zu kommen, dann ist das für viele technisch weniger versierte Bürger/innen eine zu hohe Barriere. An diesem Problem kranken die Piraten ganz allgemein und über den technischen Aspekt hinaus: Sie sind und waren für die “allgemeine Bevölkerung” einfach nicht zugänglich.

Das fängt bei komplizierter Software an, die zwar technisch und aus crypto-Sicht der letzte Scheiß sein mag, aber halt die Usability von GPG hat. Das Problem zog sich über die Interpretation der Bedeutung von “Basis-Demokratie” (eben fast gänzlich auf Moderation zu verzichten) und die gewählten Wahlverfahren bis hin zur Außendarstellung. Und letztlich dann auch durch die gewählten Schwerpunkte – die einzigen, auf die sie sich einigen konnten: die klassischen Netzthemen.

Antwort: Experience-oriented Design

Die Piraten hatten super Ideen und wir schauen uns da vieles ab. Unser Initiativ-System hat viel Ähnlichkeit mit dem Tool, welches die Piraten Fraktion NRW einsetzt und wir lernen viel daran. Aber bei allem, was wir tun, haben wir auch immer den nicht-technisch-versierten “Anwender” im Hinterkopf. Das fängt bei Parteinamen, Sprache und Symbolik an, geht über die Wahlverfahren, die wir intern einsetzten (Borda-Präferenzwahl, die wirklich jeder verstehen kann, anstatt Schulze-Methode), geht über die Tools, die wir auch intern einsetzen bis hin zu dem Anspruch, den wir uns selbst geben, wie schnell wir auf Emails antworten und dass im späteren Abstimmungstool auch per Telefon abgestimmt werden können muss.

Wir wollen keine Ein-Thema-kleinst-Partei sein, wie es die Piraten geworden sind. Wir wollen unsere Ideen von Mitbestimmung, Transparenz und Gerechtigkeit mit der breiten Bevölkerung gestalten und eine wirklich neue Politik anzetteln. Wir wollen all jenen eine Plattform geben – innerhalb unserer Werte –, die aktuell nicht vertreten werden. Das geht nicht, wenn du nicht versuchst alle in der Gesellschaft dort abzuholen, wo sie stehen, sondern erwartest, dass sie schon zu dir kommen, denn “du hast ja das beste System”**.

Das Vielfaltsproblem

Schau, ich würde auch gerne in einer Post-Gender-Welt leben. Und in einer Post-Rassismus-Welt. Grundsätzlich eine Post-*-Welt wäre schön. Aber das tun wir nun mal nicht. Und das Ziel mit dem Zweck zu verwechseln hilft da keinem. Wir leben nunmal in einer Gesellschaft mit strukturellem Rassismus, Sexismus und Diskrimierung. Seine Augen davor zu verschließen und so tun als ob es nicht so wäre, sorgt nur dafür, dass es sich verstärkt: Wir wissen schon lange, dass wenn wir dem nicht aktiv entgegen treten und unangenehme Maßnahmen ergreifen, sich das nur weiter ausweitet.

Antwort: Quoten und Ziele

Keiner mag Quoten-Regelungen – wir hätten Sie auch lieber nicht. Aber es ist nun mal das uns einzig bekannte effektive Mittel dem Einhalt zu gebieten. Sie nicht anzuwenden ist dementsprechend unverantwortlich – und naiv: denn gerade zu Beginn werden diese Weichen gestellt und wenn es einmal falsch gelaufen ist, ist es extrem schwierig wieder die Kurve zu kriegen. Die Piraten stellen dafür ein Musterstudienobjekt da.

Natürlich reicht das aber nicht. Personen aus unterpriviligierten Gruppen haben auch grundsätzlich weniger Freizeit. Damit steigt natürlich die Schwelle sich (politisch) zu engagieren. Deswegen gehen wir aktiv auf Personen dieser Gruppen zu, animieren sie, sich bei unserem Bias-reduzierenden doppelt-blinden Bewerbungsverfahren für die Abgeordneten zu bewerben (wo sie genommen werden, weil Sie qualifiziert sind und nicht weil sie einer Quote entsprechen) und helfen Ihnen dabei Initiativen zu entwickeln. Wir sehen es als unsere Verpflichtung an, diese extra Zeit, die Ihnen im Vergleich zu den Privilegierten unserer Gesellschaft nicht gegeben wird, durch Engagement und Investition von unserer Zeit und Geld bestmöglich wettzumachen.

Um uns daran auch regelmäßig zu erinnern, haben wir uns schon ab der Gründung fest vorgeschrieben, dass wir mindestens einmal im Jahr einen Vielfaltsbericht über alle der Organisation zugehörigen Ebenen veröffentlichen, in dem der Vorstand auch seine geplanten Maßnahmen zur Steigerung der Vielfalt bekannt gibt.

Kann diese gut gemeinte Bewegung nicht durch eine entschlossene Gruppe von Neuzugängen “gekapert” werden? – Frank Schröder

Jain. Natürlich, theoretisch ist das immer möglich. Aber wir haben uns an verschiedenen Stellen viele Gedanken gemacht, wie die Bewegung eventuell “unterwandert” werden kann. Auch hier schöpfen wir aus vielen leidvollen Erfahrungen anderer und da bleibt mir zunächst wieder zu sagen, dass die Mitgliedschaft nur langsam wachsen wird. Das ist wohl die stärkste Präventionsmaßnahme.

Ein interessanter Aspekt, der hier mit reinspielt, ist, dass wir die Aufgaben von Partei und Funktionären – ähnlich wie die Piraten – anders denken wollen. Wenn es gar nicht unbedingt Mitglieder braucht, um die Inhalte zu definieren (siehe Initiativ-Prinzip), dann können wir die Mitgliedschaft enger beschränken auf diejenigen, die Funktionen, Ämter und Mandate haben. Und diesen können wir dann auch wesentlich stärkere Richtlinien geben, die sie freiwillig unterzeichnen müssen, wenn sie Parteimitglied werden wollen – wie unseren Ethik-Kodex, der u.a. Nebentätigkeit während eines Vollzeitamts oder -mandats untersagt und verlangt, alle anderen Nebeneinkünfte komplett offen zu legen. Wenn du dich nicht daran hälst, hast du anerkannt, dass dies ein legitimer Ausschlussgrund ist. Ganz schön viel Aufwand und Risiko, um ein System zu unterwandern.

Durch die Öffnung bei den Inhalten kann das System natürlich theoretisch auch von dort unterwandert werden. Da gibt es aktuell eine eingebaute Bremse, indem wir das Initiativ-Prinzip zunächst nur für das Erstellen des (jetzigen) Wahlprogramms nutzen werden und erst wenn es sich bewährt hat und wir die Kinderkankheiten ausgebügelt haben, wird es auch möglich sein Partei-Struktur-Änderungen darüber anzustoßen (ist aber auch rechtlich noch nicht ganz geklärt, wie das aussieht).

In diesem System gilt natürlich auch weiterhin der Verhaltens-Kodex auf Basis des Berlin Code of Conduct (siehe oben) und die Initiativen müssen den Werten entsprechen. Und angenommen, da würde jetzt das Moderations-Team etwas übersehen und ungeahnt durchschlüpfen, müssen noch mindestens 1% der Beweger/innen darüber abstimmen wollen – das ist das Quorum. Kommt es dann zu einer Abstimmung, braucht es kein Quorum mehr, aber das heißt auch, wenn ein großer Teil der Beweger/innen gegen die Initiative mobil macht, kommt es trotzdem nicht durch. Um sicher zu gehen, dass du die Bewegung wirklich unterwandern kannst, brauchst du eine 51%ige Mehrheit unter den Beweger/innen. Und dann unterwanderst du nicht mehr.

Gleichzeitig erlaubt das System dennoch Abstimmungen, die ohne viel Gegenwehr auch einfach nur von 1% voll befürwortet werden, Parteiprogramm zu werden.

Fast der wichtigste Mechanismus ist, dass du als Initiator einer Vorlage noch mindestens zwei weitere Personen überzeugen musst mit Dir Initiatoren zu werden und auch mit ihrem Namen und ihrem Ruf dafür zu stehen. Zudem behalten wir uns vor, die Anzahl der aktiven Initiativen, bei denen dieselbe Person Initiator ist, zu beschränken. Wir wollen keine “Wer am lautesten schreit oder am meisten schreibt, gewinnt”-Dynamik unterstützen. Aber das System müssen wir erstmal in der Praxis beobachten.

Weitere Fragen einfach an @gnunicornBen twittern!

BTW, wir suchen noch Unterstützung!

  • Wir brauchen auch weiterhin Unterschriften auf der Petition, denn ohne eine ausreichende Rückendeckung in der Bevölkerung ist das ganz schön viel Aufwand jetzt zur BuTa-Wahl
  • Zum Thema moderiertes Wachstum: wir haben eine Öffentliche Ausschreibung als Bundestagsabgeordnete/rbewirb dich jetzt
  • Schon jetzt kannst du dich mit anderen Beweger/innen auf einer (vorläufigen) Plattform vernetzen, Aktionen planen und gemeinsam an Initiativen arbeiten.
  • Als freiweilligen Organisation suchen wir natürlich immer nach Mithilfe. Hier gibt es ein Aktions-Kit, wie du direkt aktiv werden kannst – und wenn du noch mehr machen willst und dich aktiv (außerhalb eines potentiellen Mandats) in die Arbeit einbringen möchtest, schreib mich einfach an!

Fussnoten:

* Weigern sich die Initiatoren die vorgeschlagenen Änderungen zu machen, kann das Moderationsteam den Vorschlag auch gänzlich ablehnen. Wenn die Initiatoren meinen, dies sei zu Unrecht geschehen, können sie das “Kuratorium” aufrufen, welches final darüber entscheidet: Dazu werden zufällig 100 Beweger/innen ausgewählt, die Initiative und die Stellungnahme beider Seiten wird ihnen vorgelegt und sie entscheiden dann in einfacher Mehrheit über die Vereinbarkeit mit den Werten. Wird eine Nichtvereinbarkeit festgestellt, werden die Initiatoren für 6 Monate für das Einreichen weiterer Initiativen gesperrt. ** Merkt mensch mir den Frust mit dem Tech-Sektor an, in dem ich seit über 10 Jahren tätig bin ;p ?